Präventionsprojekt – Erfahrungen von Gewalt im Sport verhindern

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Seit 2022 führt der Hessische Turnverband mit seinem Stützpunkt in Frankfurt ein Präventionsprojekt gemeinsam mit der Universität Münster durch. In dem Projekt geht es um die Entwicklung und Realisierung eines Schutz- und Förderkonzeptes für den Leistungssport im HTV. Nun wurden die bisherigen Ergebnisse von Dr. Kathrin Kohake und Prof. Dr. Alfred Richartz, den Verantwortlichen auf wissenschaftlicher Seite, vorgestellt. Neben Verhaltensregeln wurden die Zwischen-Ergebnisse der systematischen Trainingsbeobachtungen sowie der Befragungen der Sportler*innen berichtet. Wir haben mit beiden über das Projekt gesprochen.

Was kann man sich unter dem Präventionsprojekt vorstellen?

Unter „Prävention“ werden Maßnahmen und Vorkehrungen zusammengefasst, die verhindern sollen, dass unerwünschte und schädliche Ereignisse oder Zustände eintreten. „Prävention“ ist also ein Sammelbegriff, der viele verschiedene Einzelelemente zusammenfassen kann. In unserem Fall beziehen sich die Maßnahmen darauf, dass Erfahrungen von Gewalt im Sport verhindert werden sollen. Und zwar berücksichtigen wir dabei ausdrücklich alle Beteiligten im Sport – also Kinder, Jugendliche, erwachsene Sportler*innen, aber auch Trainer*innen, Eltern und andere Mitarbeitende.

Ein effektives Gewaltpräventionskonzept muss viele verschiedene Bausteine enthalten. Zum Beispiel sollte es Personen geben, an die man sich wenden kann. Außerdem sollten alle Beteiligten informiert und sensibilisiert werden gegenüber Gewalt. In diesem Projekt haben wir uns auf einen solchen Baustein konzentriert: auf die Entwicklung von klaren Verhaltensregeln, die allen Beteiligten deutlich machen, welche Rechte sie haben und welche Verhaltensweisen von ihnen erwartet werden. Wir wollten aber von Anfang nicht dabei stehen bleiben, Erfahrungen von Gewalt vorzubeugen – also Negatives zu verhindern. Es geht dem HTV und dem Projektteam zugleich darum, positive, entwicklungsfördernde Erfahrungen im Sport möglichst wirksam zu unterstützen, also die leistungssportliche, psychische, soziale und motivationale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern.

Warum ist es wichtig sich diesem Thema so intensiv zu widmen?

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist ganz allgemein ein wichtiges gesellschaftliches Thema. Das liegt auch daran, dass sich die pädagogischen Werte in unserer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren stark geändert haben. Heute gilt zum Beispiel die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen in Deutschland. Der Schutz vor sexualisierter, psychischer und körperlicher Gewalt sowie vor fehlender Fürsorge war sowohl im Leistungs- wie im Breitensport in den letzten Jahren ein wichtiges Thema, denn Einzelfallberichte und neuere Studien haben darauf aufmerksam gemacht. Dies gilt für Deutschland, aber auch für die USA, Kanada, Großbritannien, Niederlande, Schweiz und andere Länder mehr. Daraufhin haben große Sportorganisationen international Maßnahmen für einen besseren Gewaltschutz ergriffen.

Andererseits gibt es auch oft eine Unsicherheit darüber, ab welcher Grenze man von „Gewalt“ sprechen kann und sprechen muss. Da können die persönlichen Auffassungen ziemlich weit auseinandergehen. Für die tägliche Praxis im Sport ist es deshalb wichtig, sich intensiv damit auseinanderzusetzen, welche Grenzen gelten und wie man mit Grenzüberschreitungen umgehen sollte.

Was wurde bisher dafür getan?

Es gibt zwar schon seit geraumer Zeit Ehrenkodizes für Trainer*innen. Ihre Formulierungen sind aber oft abstrakt oder vage, und sie können deshalb sehr unterschiedlich verstanden werden. Die Prävention von Gewalt in pädagogischen Beziehungen muss darüber hinaus ausgehen von der Basis eines soliden, breit getragenen Verständnisses guter Praxis mit ausreichender Qualität. Pädagogische Qualität im Sport hat viele Facetten, in gewaltpräventiver Perspektive ist ihr wichtigster Baustein jedoch die Realisierung einer hohen Beziehungsqualität zwischen Verantwortlichen und Sportler*innen. Dies schließt emotionale Wärme, wache Fürsorge, gegenseitige Anerkennung und Vertrauen ein. Eine hohe Beziehungsqualität ist zugleich die wichtigste Basis dafür, Eskalationen frühzeitig zu stoppen, Konflikte konstruktiv zu bearbeiten und bei Grenzüberschreitungen eine gemeinsame Sprache und Beziehungsbasis zu finden.

Wie kam es zu der Zusammenarbeit zwischen der Universität Münster und dem HTV?

Seit vielen Jahren arbeiten wir in unterschiedlichen Projekten zur pädagogischen Trainingsqualität mit dem Deutschen Turner-Bund zusammen. In diesem Zuge haben wir bereits viele Trainer*innen und Sportler*innen am Stützpunkt in Frankfurt kennengelernt und begleitet. Der ehemalige Sportdirektor des HTV ist schließlich auf uns zugekommen, als ein Konzept zum Kindeswohl und der Prävention jeglicher Art von Gewalt im HTV entwickelt werden sollte. Von diesem Zeitpunkt an haben wir Projektmodule entwickelt, durchgeführt und evaluiert. Im letzten Jahr hat sich der DTB diesen Modulen angeschlossen.

Wer wird angesprochen?

In diesem Projekt werden alle Beteiligten (Trainer*innen, Sportler*innen, Eltern und Funktionär*innen) angesprochen. Alle Gruppen waren auch eingeladen, sich aktiv mit ihren Sichtweisen einzubringen. Das war zum Beispiel bei der Entwicklung der Verhaltensregeln der Fall. Die Regeln sollten nicht einfach von „oben“, also der Verbandsspitze, beschlossen werden, sondern wir wollten ermöglichen, dass sich alle Gruppen einbringen und dann auch mit den Verhaltensregeln identifizieren können. Einige Bausteine im Projekt richten sich besonders an die Trainer*innen oder an die Sportler*innen. Erst das Zusammenspiel aller Aktivitäten macht ein Schutz- und Förderkonzept lebendig und wirksam.

Welche Maßnahmen wurden bisher durchgeführt und warum?

Die bisherigen Projektaktivitäten lassen sich in vier großen Modulen zusammenfassen:

Im vergangenen Jahr haben wir Verhaltensregeln entwickelt und in zielgruppenspezifischen Workshops mit Trainer*innen, Sportler*innen und Eltern diskutiert. Basierend auf internationalen Vorschlägen und normativen Grundlagen ist so einen Katalog entstanden, der Rechte und Pflichten für alle Zielgruppen definiert und zusätzlich Grenzfälle erläutert.

Außerdem haben wir verschiedene altersgerechte Workshops mit den Sportlern und Sportlerinnen durchgeführt, in denen wir mit ihnen über Kinderrechte gesprochen, sie für Grenzen sensibilisiert und sie darin bestärkt haben, ihre Rechte wahrzunehmen.  Als dritten Baustein führen wir regelmäßige Trainingsbeobachtungen durch. Bis heute konnten wir alle Trainer*innen bereits zu zwei Zeitpunkten im Training besuchen. Wir nutzen dafür CLASS, ein systematisches Beobachtungsinstrument aus der Unterrichtsforschung. Das System ist von uns im Leistungssport von Kindern und Jugendlichen bereits in mehreren Projekten erfolgreich verwendet worden. Ende 2023 haben wir außerdem den Auftakt für ein regelmäßiges Monitoring gelegt, indem wir Sportler*innen ab acht Jahren mithilfe eines Fragebogens zu ihren Erfahrungen im Training, ihrer Motivation, ihrer Stressbelastung und ihrem Wohlbefinden befragt haben. Die Befragung soll nun halbjährlich wiederholt werden, um auf diese Weise niederschwellige Beschwerdemöglichkeiten zu bieten und rechtzeitig korrektiv eingreifen zu können.

Was steht für die Zukunft auf dem Programm?

Die Trainingsbeobachtungen und die Befragungen der Sportler*innen werden regelmäßig fortgeführt. Darüber hinaus sollen in Zukunft auch Eltern und Trainer*innen regelmäßig befragt werden, um ihre Erfahrungen aufzugreifen. Auch über weitere Workshops für (neue) Sportler*innen wird nachgedacht.

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